Landgericht Freiburg

Urteil

Bitte beachten Sie:
 
Mit Inkrafttreten des zweiten Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften zum 1. August 2002 hat der Gesetzgeber auch für das Haftpflichtgesetz den so genannten Schmerzensgeldanspruch unabhängig von einem Verschulden des Eisenbahnbetriebsunternehmers oder seiner Leute eingeführt. Die zum Unfallzeitpunkt geltende Fassung des Gesetzes (hier noch: Reichshaftpflichtgesetz - RHG) ist im WWW nicht dokumentiert, wohl aber die insoweit inhaltsgleiche Neubekanntmachung vom 4. Januar 1978.
 
Im Ergebnis würde daher ein solcher Rechtsstreit gar nicht mehr aufkommen. Die Urteilsgründe bleiben hingegen von dauerhafter Bedeutung für die Sorgfaltspflichten der Eisenbahnen.

In Sachen

7 O 281/72

wegen Schmerzensgeld

wurde am 21. November 1972 für Recht erkannt:

  1. Die Klage wird abgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens
  3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 1.000 DM.

Tatbestand

Die Klägerin fuhr am 21. 7. 1971 mit dem D-Zug D 370 der Beklagten auf der Strecke Basel Richtung Freiburg. Der Zug wurde von einer E-Lok der Baureihe 103 gezogen, die von einem Lokomotivführer einmännig bedient wurde. Die Lokomotive ist mit einer sogenannten automatischen Fahr- und Bremssteuerungsanlage (AFB) ausgerüstet, die dem Lokomotivführer erlaubt, die gewünschte Geschwindigkeit einzustellen, auf die der Zug dann automatisch beschleunigt oder abgebremst und auf der er, nachdem er sie erreicht hat, gehalten wird. Eine eingebaute Sicherheitsfahrschaltung (Sifa) hat die Aufgabe, den Zug bei Handlungsunfähigkeit des Lokführers automatisch abzubremsen. Nach dem von der Beklagten erstellten Buchfahrplan, der Angaben über die vom Lokführer jeweils einzuhaltenden Geschwindigkeiten, Ankunfts- und Abfahrtszeiten usw. enthält, war der Zug bei Streckenkilometer 252,4 von 105 km/h auf 120 km/h zu beschleunigen und bei Streckenkilometer 250,4 auf 75 km/h abzubremsen. Mit dieser Geschwindigkeit sollte er die folgende, bei Streckenkilometer 250,3 beginnende Kurve durchfahren. Tatsächlich wurde der Zug aber schon etwa von Streckenkilometer 252,4 an auf ca. 140 km/h beschleunigt und mit dieser Geschwindigkeit in die erwähnte, kurz vor dem Bahnhof Rheinweiler gelegene Kurve gefahren. Da diese Kurve allenfalls mit 100 km/h befahren werden kann, entgleiste der Zug. Dabei entstand erheblicher Personen- und Sachschaden. 21 Personen, darunter der Lokomotivführer, wurden getötet. Die Klägerin wurde verletzt. Den ihr entstandenen materiellen Schaden hat die Beklagte ersetzt, sie weigert sich jedoch, Schmerzensgeld zu zahlen.

Die Klägerin ist der Ansicht, die Beklagte sei auch hierzu verpflichtet; denn sie habe den Lokführer M., der den Zug einmännig fuhr, nicht ausreichend geschult. Dies sei der Grund gewesen, weshalb er außerstande gewesen sei, die Lokomotive vor der Gefahrenstelle rechtzeitig abzubremsen, obwohl ihm hierfür mehrere technische Möglichkeiten gegeben gewesen seien. Bedenken bestünden auch gegen dessen Eignung als Lokführer aus gesundheitlichen Gründen.

In Anbetracht der der Beklagten bekannten Gefährlichkeit des Streckenabschnitts hätte diese wissen müssen, dass bei einem Ausfall der Lokomotivführers die Sicherheitsfahrschaltung keinen ausreichenden Schutz biete. Wenn die Herabsetzung der Geschwindigkeit eines Zuges so kurz vor einer Kurve vorgeschrieben sei, dass der dazwischen liegende Zeitraum kürzer als ein Sifa-Intervall ist (diese ist zeit- nicht wegabhängig), könne die Sifa je nach Ablauf nicht mehr rechtzeitig eingreifen, wenn der Lokführer zu dem Zeitpunkt, in dem der Zug abgebremst werden muss, nicht mehr handlungsfähig ist. Dies für die Beklagte jedenfalls nach dem Zugunglück in Aitrang vom 9. 2. 1971 erkennbar gewesen.

Die Beklagte hätte deshalb als zusätzliche Sicherung die induktive Zugsicherung (Indusi) an dieser Stelle einbauen lassen oder einen zweiten Lokomotivführer einsetzen müssen. Zumindest aber hätte sie den Buchfahrplan so gestalten müssen, dass die Sicherheitsfahrschaltung in jedem Falle noch in der Lage gewesen wäre, den Unfall zu verhindern.

Die Klägerin behauptet, sie habe bei dem Unfall [der folgende Vortrag zu den Verletzungen wurde nicht aufgenommen] und leide auch heute noch unter den Folgen.

Sie hat beantragt:

Die Beklagte beantragt

Sie ist der Auffassung, dass der Lokomotivführer vor dem Unfall mit größter Wahrscheinlichkeit handlungsunfähig war.

Es habe sich bei den Lokomotivführer M. um einen langjährig erfahrenen und zuverlässigen Lokführer gehandelt, der schon lange Jahre eine E-Lok gefahren und gerade auf der Strecke Karlsruhe - Basel besonders streckenkundig gewesen sei. Die Eignungsprüfung für die E-Lok 103 habe er zwar erst 5 Tage vor der Unglücksfahrt abgelegt. Ihre Bedienung habe er aber voll beherrscht. Die E-Lok 103 unterscheide sich nur durch die jederzeit abschaltbare AFB von den Lokomotivtypen, die M. bisher gefahren habe. Auf der Strecke Karlsruhe - Basel sei M. bereits seit 12 Jahren als Lokomotivführer tätig gewesen. Entgegen der Behauptung der Klägerin seien auch keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass Lokomotivführer M. aus Gesundheitsgründen nicht geeignet gewesen sei, schnelle Züge zu fahren. Bei den laufend durchgeführten ärztlichen Untersuchungen sei seine Tauglichkeit als Lokomotivführer von E-Loks stets festgestellt worden.

Es treffe auch nicht zu, wie die Klägerin behaupte, dass sie es fahrlässig unterlassen habe, weitere Sicherheitsmaßnahmen auf der Strecke zu treffen. Auch die Klägerin habe eingeräumt, dass die Strecke entsprechend den damals geltenden Bestimmungen der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung sowie der Signalordnung gesichert gewesen sei. Die zuständigen Organe der Bundesbahn hätten darauf vertrauen dürfen, dass die EBO alle Bedingungen enthalte, die für eine größtmögliche Sicherheit des Eisenbahnverkehrs erforderlich seien. Die EBO sei erst im Jahre 1967 neu gefasst worden nach jahrelangen Vorarbeiten, an denen alle Fachkräfte von Bund, Ländern, der Deutschen Bundesbahn, der Gewerkschaften und der Berufsgenossenschaften teilgenommen haben. Neuen Erkenntnissen sei sie jeweils angepasst worden. Grundsätzlich sei daher davon auszugehen, dass ein Unfall, der sich trotz Einhaltung der Vorschriften der EBO und der anerkannten Regeln der Technik ereignet hat, nicht durch ein Verschulden eines Organs der Deutschen Bundesbahn verursacht sein könne.

Das Zugunglück von Rheinweiler am 21. 7. 1971 sei für sie nicht voraussehbar gewesen. Bis zu dem Zugunglück von Aitrang am 9. 2. 1971 habe es niemand für möglich gehalten, dass ein Zug auf offener Strecke durch Überschreitung der Geschwindigkeit entgleisen könne. Ein derartiges Ereignis habe sich seit Jahrzehnten nicht zugetragen. Im Bereich der Bundesbahndirektion Karlsruhe sei ein in etwa vergleichbarer Unfall nur aus dem Jahre 1911 (bei Müllheim) bekannt. In Anbetracht der außerordentlich hohen Unwahrscheinlichkeit der Entgleisung eines Zuges auf freier Strecke wegen Geschwindigkeitsüberschreitung habe niemand damit gerechnet, dass sich innerhalb eines Zeitraumes, der für die weitere Absicherung der 2.020 ständigen Langsamfahrstellen des Streckennetzes der Deutschen Bundesbahn durch [induktive Zugsicherung] (Indusi-Anlagen) benötigt wurde, ein weiteres derartiges Unglück ereignen werde. Erst die Auswertung der Untersuchungen über die Ursachen der Zugentgleisung bei Aitrang habe die Erkenntnis gebracht, dass entgegen der bisherigen Überzeugung die bis dahin bestehenden Sicherheitsmaßnahmen nicht ausreichten und dass deshalb alle ständigen Langsamfahrstellen des Bundesbahnnetzes zusätzlich durch Indusi-Anlagen zu sichern seien. Die hierfür erforderlichen Maßnahmen seien durch die Bundesbahn-Hauptverwaltung sofort eingeleitet worden. Wegen der notwendigen Vorbereitungsmaßnahmen, insbesondere aber der beschränkten Liefermöglichkeiten von Indusi-Anlagen durch die Industrie und die zeitfordernden Einbauten der Indusi-Anlagen auf den Strecken, sei es unmöglich gewesen, in dem Zeitraum bis zum Unglück von Rheinweiler am 21. 7. 1971 alle Langsamfahrstrecken zu sichern.

Entgegen der Auffassung der Klägerin habe man auch nicht die Geschwindigkeit der Züge vor den Langsamfahrstellen so früh herabsetzen können, dass die für die Langsamfahrstelle vorgeschriebene Geschwindigkeit schon vor der Laufzeit des Sifa-Intervalles erreicht war. Derartige Geschwindigkeitsreduzierungen hätten zu so großen Fahrzeitverlusten geführt, dass z.B. alle Anschlusszeiten nicht hätten eingehalten werden können mit der Folge, dass nicht nur für den gesamten deutschen Eisenbahnbetrieb, sondern auch für die internationalen Anschlüsse ein fahrplanmäßiges Chaos entstanden wäre. Folge man der Forderung der Klägerin auf Geschwindigkeitsreduzierung, hätte dies z.B. allein auf der Strecke Basel - Rheinweiler einen Fahrzeitverlust von 4 Minuten und auf der Strecke Basel - Hamburg einen solchen von 3 Stunden zur Folge gehabt.

Die Forderung auf Einsatz eines zweiten Lokomotivführers auf jeder E-Lok der Bundesbahn sei undurchführbar. Würde auch nur bei den Lokomotiven der schnellfahrenden Züge jeweils ein zweiter Lokomotivführer eingesetzt, müssten von heute auf morgen 10.000 neue Lokomotivführer eingestellt und ausgebildet werden. Dies sei schon arbeitstechnisch einfach nicht möglich, abgesehen davon wäre ein finanzieller Mehraufwand von 360 Millionen DM erforderlich. Dies sei schon finanziell nicht zu verkraften und auch völlig unzumutbar.

Die Herabsetzung des Sifa-Intervalles auf kürzere Ansprechzeiten hätte das Unglück von Rheinweiler auch nicht verhindern können. Dies schon deshalb nicht, weil nicht feststehe, zu welchem Zeitpunkt des Lokführer M. handlungsunfähig geworden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird Bezug genommen auf den vorgetragenen Inhalt der Parteischriftsätze.

Das Gericht hat im Armenrechtsprüfungsverfahren Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen O. und H. Auf das Protokoll vom 7. 2. 1974 (AS. 477 ff.) wird Bezug genommen. Die schriftlichen Gutachten

das Blutalkoholgutachten und der Obduktionsbefund des Instituts für gerichtliche Medizin der Universität Freiburg vom 22. 7. 1971 (AS. 195) und vom 22. 7. 1971 (AS. 197 - 211) und der Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft Freiburg vom 24. 4. 1973 (AS. 217 - 223), die Fotokopie des Buchfahrplanes der Deutschen Bundesbahn (AS. 517/519) sowie die Personalakte des Lokführers M. waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Die Parteien haben sich mit der Verwertung der Beweisaufnahme des Armenrechtsprüfungsverfahrens im streitigen Verfahren einverstanden erklärt.


Entscheidungsgründe

Die Klage ist nicht begründet.

1.

Die Klägerin hat lediglich dann einen Anspruch gegen die Beklagte, wenn diese

a)

Eine Haftung der Beklagten nach § 831 BGB entfällt schon deshalb, weil die Klägerin den ihr obliegenden Nachweis einer Handlungsfähigkeit des Lokführers M. nicht erbracht hat (BGHZ 39, 103 [105 f.]) Der Nachweis der Handlungsfähigkeit des Lokführers wäre Voraussetzung für eine Anwendung der §§ 823, 847, 831 BGB (vgl. BGH a.a.O. [107]).

Die Beklagte hat den Umständen nach zu Recht die Handlungsfähigkeit ihres Lokführers vor dem Unfall in Zweifel gezogen. Alle Ergebnisse der Untersuchungen durch die Sachverständigen Prof. L., Prof. M. und Prof. Z. deuten mit einem sehr hohen Grade von Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass durch eine Handlungsunfähigkeit des Lokomotivführers M. der Zug vor der Langsamfahrstelle in Rheinweiler nicht auf die vorgeschriebene Geschwindigkeit von 75 km/h abgebremst worden ist und deshalb mit einer Geschwindigkeit von 140 km/h in die Kurve einfuhr, was mit Sicherheit zur Folge hatte, dass der Zug in der Kurve entgleiste und zu den tragischen Folgen für die Reisenden und das Zugpersonal führte.

Die Annahme einer Handlungsunfähigkeit des Lokführers bietet auch praktisch die einzige Möglichkeit zu erklären, weshalb ein erfahrener und gewissenhafter Lokführer, was M. ausweislich seiner Personalakte und der Aussagen der Zeugen O. und H. war, mit einer Geschwindigkeit von ca. 140 km/h in eine für ihn aus jahrelanger Praxis bekannte Kurve einfährt, die für 75 km/h zugelassen und höchstens mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h zu befahren ist. Hätte M. infolge eines - schon auf Grund seiner guten Streckenkenntnisse in hohem Maße unwahrscheinlichen - Irrtums über seinen Fahrort die falsche Geschwindigkeit eingestellt, so hätte er spätestens 400 m vor der Kurve seinen Irrtum bemerken müssen; denn ab da ist die Kurve einsehbar (Gutachten M., S. 21 [AS. 179]). Aus einer Entfernung von nur 400 m hätte M. den Zug noch so weit abbremsen können, dass er gefahrlos durch die Kurve gekommen wäre (vgl. M. a.a.O.).

Selbst wenn man aber davon ausgehen würde, dass der Lokführer M. nicht handlungsunfähig war, sondern im Besitze seiner geistigen und körperlichen Kräfte aus einem menschlichen Versagen heraus das Abbremsen des Zuges unterlassen und dadurch das Entgleisen des Zuges verursacht hat, wäre eine Haftung der Beklagten aus § 831 BGB nicht gegeben. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist es eindeutig, dass die Beklagte den Lokführer M. sorgfältig ausgewählt, gut ausgebildet und bei seiner Tätigkeit als Fahrzeugführer einer E-Lok ordnungsgemäß überwacht hat. Die glaubhaften Aussagen der Zeugen O. und H. sowie der Inhalt der Personalakte des verstorbenen M. ergeben dies ohne jeden Zweifel.

b)

Eine Haftung der Beklagten aus unerlaubter Handlung wegen schuldhaften Unterlassens von weiteren Sicherheitsmaßnahmen (§§ 823, 847, 31, 89 BGB) ist ebenfalls nicht erkennbar. Es sind dem Gericht keine Umstände erkennbar, die den Vorwurf eines schuldhaften Unterlassens von Sicherheitsmaßnahmen durch die Beklagte begründen könnten.

Unstreitig waren beim Betrieb des Unglückszuges alle Bestimmungen der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) vom 8. 5. 1967 und der Eisenbahn-Signalordnung (ESO) vom 7. 10. 1959 ... beachtet. In Anbetracht dessen, dass die in beiden Verordnungen angeordneten Maßnahmen zur Sicherung des Eisenbahnverkehrs unter Beteiligung von Fachleuten aus allen hierfür in Frage kommenden Fachbereichen der Bundesbahn selbst, der Industrie und betroffenen Organisationen erarbeitet worden sind, konnte die Beklagte jedenfalls bis zu dem Eisenbahnunglück von Aitrang am 9. Februar 1971, wo ein Zug auf freier Strecke wegen Geschwindigkeitsüberschreitung, deren Ursache ebenfalls nicht sicher aufgeklärt werden konnte aber wahrscheinlich auch auf einer Handlungsunfähigkeit des Lokführers beruhte, entgleiste, der Auffassung sein, dass die nach gesetzlichen Bestimmungen zu beachtenden Sicherheitsmaßnahmen ausreichten, um nach menschlichem Ermessen ein Zugunglück zu verhindern. Erst durch die Auswertung des Ergebnisses der Untersuchungen über die Ursachen der Zugentgleisung auf der Strecke bei Aitrang ergab sich dann, wie die Beklagte glaubhaft vorgetragen hat, die Erkenntnis, dass entgegen der bisherigen Annahme und entgegen der praktischen Erfahrung über Jahrzehnte auch zu ständigen Langsamfahrstellen auf freier Strecke eine Entgleisung des Zuges wegen Geschwindigkeitsüberschreitung nur durch den Einbau einer ... Zugbeeinflussung sicher verhindert werden kann, weil die zwar theoretisch erkannte, nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung aber nicht erwartete Situation tatsächlich eintritt, bei der vor einer Langsamfahrstelle der Fahrzeugführer zu einer Zeit handlungsunfähig wird, in der die ihn überwachende Sicherheitsfahrschaltung nicht mehr rechtzeitig tätig werden kann und deshalb die Abbremsung des Zuges auf die vorgeschriebene Geschwindigkeit unterbleibt.

Es kann deshalb auch keinem Zweifel unterliegen, dass die zuständigen Organe der Beklagten verpflichtet waren, unverzüglich diejenige Maßnahme zu ergreifen, die erforderlich war, die erkennbare Sicherheitslücke zu beseitigen. Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte eine Möglichkeit hierzu schuldhaft versäumt oder die Durchführung einer ihr möglichen Sicherheitsmaßnahme schuldhaft verzögert hat, haben sich nicht ergeben.

Die Beklagte hat, wie sie von der Klägerin unwidersprochen vorgetragen hat, nach dem Vorliegen der Untersuchungsergebnisse über die Unfallursache des Unglückes von Aitrang sofort den als notwendig erkannten Einbau von Indusi-Anlagen vor allen 2.020 ständigen Langsamfahrstellen ihres Streckennetzes in die Wege geleitete. Aus von der Beklagten vorgelegten Verfügungen der Bundesbahn-Hauptverwaltung ergibt sich, dass sie bereits mit Verfügung vom 22. Februar 1971 mit Fristsetzung bis 15. März 1971 die Erfassung aller für den Einbau einer Indusi in Frage kommenden ständigen Langsamfahrstellen angeordnet hat. Mit Verfügung vom 28. 6. 1971 hat der Vorstand der Deutschen Bundesbahn die Sicherung der ständigen Langsamfahrstellen von einer bestimmten Größe der Geschwindigkeitsdifferenz ab für das Streckennetz der Deutschen Bundesbahn angeordnet. Die Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn hat unter Bezugnahme auf diese Verfügung mit Schnellbrief vom 22. 7. 1971 verfügt, dass vorrangig die Langsamfahrstellen mit Indusi-Anlagen bis zum 26. 9. 1971 zu sichern sind, die auf unter 70 km/h liegende Geschwindigkeitsreduzierungen haben, weil nicht damit gerechnet werden könne, dass ausreichend Material für alle benötigten Indusi-Anlagen geliefert werden könne. In diesem Schnellbrief ist auch darauf hingewiesen, dass die Materialbeschaffung bereits eingeleitet worden sei.

Die Einlassung der Beklagten, es sei ihr in dem Zeitraum zwischen der Auswertung der Ergebnisse der Untersuchungen des Unglückes von Aitrang und dem Zeitpunkt des Eisenbahnunglückes in Rheinweiler unmöglich gewesen, an den 2.020 Langsamfahrstellen ihres Streckennetzes die erforderlichen Signal- und Indusi-Anlagen einzubauen, weil sich in so kurzer Zeit das erforderliche Material nicht habe beschaffen lassen und weil auch der Einbau an Ort und Stelle zeitraubend gewesen sei, überzeugt. Dass an der Unfallkurve in Rheinweiler ersichtlich Grund bestanden habe, mit dieser Maßnahme zu beginnen bzw. diese Stelle vorrangig zu behandeln, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Beklagte konnte natürlich nicht voraussehen, dass sich gerade in der Gleiskurve von Rheinweiler noch vor Beendigung ihrer zusätzlichen Sicherungsmaßnahmen eine Zugentgleisung wegen Geschwindigkeitsüberschreitung ereignen werde.

Entgegen der Behauptung der Klägerin kann es der Beklagten nicht als ein schuldhaftes Unterlassen zugerechnet werden, dass sie trotz der Erkenntnisse aus dem Zugunglück von Aitrang es unterlassen habe, vor den Langsamfahrstellen die Zuggeschwindigkeit so rechtzeitig auf die vorgeschriebene Langsamfahrt herabsetzen zu lassen, dass bei einem Ausfall des Lokomotivführers die Sicherheitsfahrschaltung in jedem Falle den Zug noch rechtzeitig zumindest auf die vorgeschriebene ermäßigte Fahrgeschwindigkeit abgebremst hätte.

Die Beklagte wendet gegen diese Forderung zu Recht ein, dass solche Maßnahmen undurchführbar gewesen seien, weil sie auf nahezu allen Strecken zu so erheblichen Zugverspätungen geführt hätten, dass sowohl im innerdeutschen Bereich als auch auf den internationalen Verkehrslinien jeder Fahrplan zusammen gebrochen wäre. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass derart grundlegende Änderungen der Fahrzeiten zahlreicher Züge nicht mehr in die Struktur eines bestehenden Fahrplanes eingebaut werden konnten, sondern den Neuaufbau des gesamten Fahrplans erforderlich gemacht hätten. Das aber wäre schon allein wegen der engen Verknüpfung des Fahrplanes der Deutschen Bundesbahn mit den Fahrplänen der angrenzenden Staaten auf keinen Fall bis zum Zeitpunkt des Zugunglücks von Rheinweiler möglich gewesen.

Aber auch die von der Klägerin aufgezeigte weitere Möglichkeit einer Sicherheitsmaßnahme gegen die Überschreitung vorgeschriebener Fahrgeschwindigkeiten wegen des Ausfalls eines Lokführers durch Besetzung der elektrischen Triebfahrzeuge mit einem zweiten Lokomotivführer hätte sich jedenfalls nicht so schnell verwirklichen lassen, dass das Zugunglück von Rheinweiler am 21. 7. 1971 vermeiden worden wäre. Die Beklagte hat hierzu, von der Klägerin unwidersprochen, vorgetragen, dass sich eine doppelte Besetzung ihrer Triebfahrzeuge aus dem vorhandenen Personalbestand nicht hätte durchführen lassen, und dass allein schon die Doppelbesetzung der Triebfahrzeuge ihrer schnellen Züge die Einstellung und Ausbildung von 10.000 weiteren Lokomotivführern erforderlich gemacht hätte. Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass diese - im Übrigen auch nur bis zum Einbau der Indusi-Anlagen notwendige - Maßnahme für die Beklagte nicht durchführbar war.

Die Frage, ob eine schuldhafte Verletzung der Sorgfaltspflicht durch die zuständigen Organe der Bundesbahn darin zu sehen ist, dass sie die Sicherheitsfahrschaltung auf eine zu lange Ansprechzeit von 50 - 55 Sekunden eingestellt hat, kann unentschieden bleiben. Die Beklagte hat überzeugend dargetan, dass auch bei Einstellung der Sifa auf eine Ansprechzeit von nur 30 - 35 Sekunden eine rechtzeitige Abbremsung des Zuges auf eine ungefährliche Geschwindigkeit nicht angenommen werden kann. Da nicht feststellbar ist, zu welchem genauen Zeitpunkt vor dem Entgleisen des Zuges der Lokführer M. den Sifa-Schalter letztmals bedient hat, kann auch nicht beurteilt werden, ob bei einem Sifa-Intervall von 30 - 35 Sekunden im Falle einer Handlungsunfähigkeit des Lokführers die Automatik der Sicherheitsfahrschaltung den Zug noch vor der Kurve in den Geschwindigkeitsbereich hätte abbremsen können, der ein Durchfahren der Kurve möglich gemacht hätte.

Nach allem war die Klage daher als unbegründet abzuweisen.

2.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit gegen Sicherheitsleistung ergibt sich aus § 710 ZPO.

Gez. Unterschriften

--Zierlinie--

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  Letzte Änderung am 20. Mai 2004 von Matthias Dörfler