Bundesgerichtshof

Urteil

Bitte beachten Sie:
 
Mit Inkrafttreten des zweiten Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften zum 1. August 2002 hat der Gesetzgeber auch für das Haftpflichtgesetz den so genannten Schmerzensgeldanspruch unabhängig von einem Verschulden des Eisenbahnbetriebsunternehmers oder seiner Leute eingeführt. Die zum Unfallzeitpunkt geltende Fassung des Gesetzes (hier noch: Reichshaftpflichtgesetz - RHG) ist im WWW nicht dokumentiert, wohl aber die insoweit inhaltsgleiche Neubekanntmachung vom 4. Januar 1978.
 
Im Ergebnis würde daher ein solcher Rechtsstreit gar nicht mehr aufkommen. Die Urteilsgründe bleiben hingegen von dauerhafter Bedeutung für die Sorgfaltspflichten der Eisenbahnen.
 
Anzumerken ist ferner, dass der BGH durchgängig die Worte «der Triebwagen» verwendet anstelle des korrekten Begriffs «das Triebfahrzeug» oder «die Lokomotive». Dies habe ich aus Authentizitätsgründen nicht korrigiert

In dem Rechtsstreit

VI ZR 98 u. 99/77

wurde am 10. Oktober 1978 für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Oberlandesgerichts Karlsruhe - IV. Zivilsenat in Freiburg - vom 5. Mai 1977 aufgehoben.
    Die Berufungen der Klägerinnen gegen die Urteile des Landgerichts Freiburg vom 21. November 1974 werden zurückgewiesen.
  2. Die Kosten der Berufungen fallen jeweils den Klägerinnen zur Last; von den Kosten des Revisionsverfahrens trägt die Erstklägerin 2/5 und die Zweitklägerin 3/5.

Tatbestand

Am 21. Juli 1971 entgleiste der Schnellzug D 370 (Schweiz-Express) auf der Fahrt von Basel in Richtung Freiburg bei km 250,3 in einer Kurve vor dem Bahnhof Rheinweiler. Dabei wurden die im Zuge mitfahrenden Klägerinnen verletzt. Sie verlangen von der Beklagten Zahlung eines Schmerzensgeldes.

Zu dem Unfall kam es wie folgt: Am Unfalltage wurde der Triebwagen des Schnellzuges im Ein-Mann-Betrieb von dem Hauptlokomotivführer M. gefahren. Die jeweils von ihm einzuhaltenden Geschwindigkeiten ergaben sich aus dem von der Beklagten aufgestellten Dienstfahrplan, dem sogenannten Buchfahrplan, den er zur Hand hatte. M. hielt sich zunächst genau daran. Bei km 252,4 durfte er den Zug von zuletzt 105 km/h auf 120 km/h beschleunigen, hätte aber sodann bei km 250,4 die Geschwindigkeit wieder ganz erheblich, nämlich auf 75 km/h ermäßigen müssen, um die Kurve vor dem Bahnhof Rheinweiler gefahrlos durchfahren zu können; diese hätte ohne die Gefahr eines Entgleisens gerade noch mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h befahren werden können. Tatsächlich wurde die Geschwindigkeit des Triebwagens auf der Unfallfahrt etwa bei km 252,4 erhöht und danach nicht mehr ermäßigt; sie vergrößerte sich vielmehr stetig bis auf gar 140 km/h. Infolge dessen entgleiste der Zug ausgangs der Rheinweiler-Kurve bei km 250,3. Dabei kamen 23 Personen, unter ihnen der Lokomotivführer, ums Leben. Mehr als 120 Personen, darunter die Klägerinnen, wurden verletzt. Die Beklagte hat die materiellen Schäden nach den Vorschriften des Reichshaftpflichtgesetzes ersetzt.

Die Klägerinnen meinen, die Beklagte hafte ihnen auch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes, und zwar einmal nach § 831 BGB, weil sie den Lokomotivführer M. nicht sorgfältig genug ausgewählt, geschult und überwacht habe. Darüber hinaus hätten Organe der Beklagten das Unglück verschuldet. Im Hinblick auf das ähnlich verlaufene schwere Unglück am 9. Februar 1971 bei Aitrang (Strecke München - Lindau) hätte die Beklagte weitere Maßnahmen ergreifen müssen, um nach dem damaligen Stand der Technik vermeidbare Schäden abzuwenden. Das habe sie in mehrfacher Hinsicht unterlassen. So hätte sie, um der durch eine plötzliche Handlungsunfähigkeit des Lokomotivführers herbeigeführten Gefahr zu begegnen, einen zweiten Lokomotivführer einsetzen oder die sogenannte Sifa-Anlage, die für eine automatische Abbremsung des Zuges bei längerem Nichtbetätigen von Schaltern sorgt, wirksamer gestalten, vor allem binnen kürzester Frist eine sogenannte Indusi-Anlage (automatische Abbremsung des Zuges mittels elektromagnetischer Beeinflussung des Triebwagens vom Gleis aus) vor jener Langsamfahrstelle einbauen müssen. In jedem Fall hätte sie, um ein rechtzeitiges Ansprechen der Sifa-Anlage zu gewährleisten, vor der Kurve ab km 252,4 keine höhere Geschwindigkeit als 100 km/h vorschreiben dürfen. Eine entsprechende Korrektur des Fahrplanes hätte nur einen Zeitverlust von neun Sekunden verursacht. Schließlich hafte sie auch für etwaige technische Mängel des Triebwagens.

Die Beklagte hat erwidert, M. sei vor dem Unfall offensichtlich nicht mehr handlungsfähig gewesen, so dass sie schon deswegen nicht nach § 831 BGB hafte; im Übrigen hat sie Ausführungen über seine charakterliche und technische Eignung seine Ausbildung und seine Überwachung gemacht. Ein Verschulden an dem Unfall könne ihr, so meint sie, nicht vorgeworfen werden, weil sie alle für sie maßgeblichen Rechtsvorschriften und die anerkannten Regeln der Technik eingehalten habe. Verbesserungen habe sie sogleich nach den Erkenntnissen aus dem Unglück von Aitrang eingeleitet, Sofortmaßnahmen seien aber weder technisch zu bewältigen noch zumutbar gewesen. Das Unglück sei auch für sie nicht vorhersehbar gewesen.

Das Landgericht hat die Klage jeder der beiden Klägerinnen abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat sie dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Mit der zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung der landgerichtlichen Urteile. Der Bundesgerichtshof hat beide Klagen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.


Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht verneint einen Anspruch der Klägerinnen aus § 831 BGB, weil nicht feststehe, dass M. als Verrichtungsgehilfe der Beklagten handlungsfähig gewesen sei. Die Beklagte habe sich im Übrigen auch hinsichtlich seiner Auswahl und Anleitung entlastet.

Hingegen meint es, die Organe der Beklagten hätten die ihnen obliegende Verkehrssicherungspflicht schuldhaft verletzt. Dazu erwägt es im Wesentlichen:

Der Triebwagen sei allerdings technisch mangelfrei gewesen. Auch im Übrigen habe die Beklagte nach dem damaligen Stand der Technik die erforderlichen technischen Sicherungsmaßnahmen getroffen. Der Ein-Mann-Betrieb auf dem Triebwagen sei zulässig gewesen. Die Sifa-Anlage habe nicht nur den Vorschriften, sondern auch internationalen Vereinbarungen entsprochen. Indusi-Anlagen vor nicht durch Signale angeordneten Langsamfahrstellen seien damals noch nicht üblich und vorgeschrieben gewesen. Es sei ihr auch nach den Erkenntnissen aus dem Unglück von Aitrang nicht möglich gewesen, alsbald alle Langsamfahrstellen, insbesondere die Unfallstelle, entsprechend zu sichern. Wohl aber sei der Beklagten vorzuwerfen, dass sie bis zur allgemeinen Ausrüstung der Langsamfahrstellen mit Indusi nicht den für Triebwagenführer geltenden Fahrplan hinsichtlich der zulässigen Höchstgeschwindigkeiten vor gefährlichen Langsamfahrstellen geändert habe. Durch entsprechende Herabsetzungen wäre es möglich gewesen, ein "Unterlaufen" der Sifa-Anlage zu verhindern, so dass der Zug bei plötzlich auftretender Handlungsunfähigkeit des Lokomotivführers jeweils rechtzeitig auf eine hinnehmbare Geschwindigkeit herabgebremst worden wäre. Die dazu notwendigen Verbesserungen des Fahrplanes wären verhältnismäßig unbedeutend und der Beklagten zumutbar gewesen.

II.

Diese Begründung des angefochtenen Urteils hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand; insbesondere überspannt das Berufungsgericht die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflichten der Organe der Beklagten. Der vom Berufungsgericht festgestellte Sachverhalt, insbesondere zu den möglichen Ursachen des Unglücks, rechtfertigt nicht den Schluss, dass die Organe der Beklagten nicht alles ihnen nach dem damaligen Stand der Technik zumutbare zur Verhinderung eines solchen Eisenbahnunglückes getan haben. Den Klägerinnen steht daher nach §§ 823 Abs. 1, 89, 31, 847 BGB kein Schmerzensgeld zu; sie müssen sich mit dem, was ihnen die Beklagte aufgrund des § 1 RHG gezahlt hat, zufrieden geben.

1.

Zutreffend verneint das Berufungsgericht schon deshalb einen Anspruch der Klägerinnen aus § 831 BGB, weil sie nicht haben dartun können, dass der Triebwagenführer M. bei Annäherung des Zuges an die Rheinweiler-Kurve überhaupt handlungsfähig gewesen sei (vgl. BGHZ 39, 103). Darüber hinaus sind auch die Ausführungen des Berufungsgerichtes, mit denen es den der Beklagten hinsichtlich der Auswahl, Anleitung und Überwachung des M. zu erbringenden Entlastungsbeweis als geführt ansieht, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

2.

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts haben die Organe und Bediensteten der Beklagten alle zur Unfallzeit geltenden und bekannten technischen Sicherheitsvorschriften eingehalten. Dann aber hat die Beklagte, wie sich aus § 2 Satz 2 EBO ergibt, ihre Sorgfaltspflicht hinsichtlich der Verkehrssicherheit ihres Bahnbetriebes erfüllt.

a)

Der Triebwagen E 103 war seinerzeit die modernste, der Bundesbahn zur Verfügung stehende Lokomotive für Schnellzüge. Ihre technische Gestaltung entsprach den neuesten technischen Anforderungen, auch was die Sicherheit anbelangt. Ein möglicher technischer Defekt ist nicht nachgewiesen, seine Auswirkungen, hätte er vorgelegen, wären darüber hinaus nicht unfallursächlich geworden; dies haben die im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft bestellten Gutachter eingehend dargelegt.

b)

Die Sifa-Anlage der E 103 hielt sich im Rahmen der von dem Internationalen Eisenbahnverband (Union Internationale de Chemin de Fer - UIC) herausgegebenen Bedingungen für die im internationalen Eisenbahnverkehr eingesetzten Triebfahrzeuge (UIC-Codex 641 - 2 V). Die Ansicht der Klägerinnen, die Beklagte hätte die Einstellung eines kürzeren Intervalls an der Sifa-Anlage anordnen müssen, würde nicht in Übereinstimmung mit dem seinerzeit bekannten und einzuhaltenden Sicherheitsstandard stehen. Jedenfalls hat das Berufungsgericht nicht festzustellen vermocht, dass durch eine Veränderung der Sifa das Unglück hätte verhindert werden können.

c)

Der Ein-Mann-Betrieb auf der E 103 war nach § 45 Abs. 1 EBO zulässig, da der D 370 nicht schneller als 140 km/h fahren durfte. Eine Änderung aufgrund der Erfahrungen aus dem Unglück von Aitrang wäre, wie das Berufungsgericht zutreffend bemerkt, aus organisatorischen und wirtschaftlichen Gründen unmöglich, aber auch nicht sinnvoll gewesen.

d)

Nach dem technischen Standard zur Unfallzeit brauchte die Langsamfahrstelle bei Rheinweiler, die für den Triebwagenführer bei der Annäherung leicht erkennbar (Einfahrsignal des Bahnhofs) war, nicht zusätzlich durch eine Indusi-Anlage gesichert zu werden, um dadurch auch hier die Sicherheit für den Fall eines menschlichen Versagens des Triebwagenführers, insbesondere den Eintritt seiner plötzlichen Handlungsunfähigkeit zu erhöhen. Erst die Erfahrungen der Beklagten aus dem Unglück von Aitrang gaben ihr Veranlassung, für Langsamfahrstellen mit erheblichen Geschwindigkeitsdifferenzen die Ausstattung mit Indusi auch dann - zusätzlich durch Aufstellen einer Geschwindigkeitstafel (Signal Lf 4 gemäß dem Signalbuch 1959) - einzuführen, wenn diese Gefahrenstelle für den Triebfahrzeugführer auch ohne solches Signal (hier das Einfahrsignal Rheinweiler) erkennbar war (Änderung der Nr. 68 der Ausführungsbestimmungen durch Verfügung der Beklagten vom 31. August 1971). Die Beklagte hat alles in ihrer Macht stehende getan, um dieses Programm zügig durchzuführen; für das Unglück von Rheinweiler kam der Einbau der Indusi zu spät, indessen nach allem ohne ein Verschulden der Organe der Beklagten, wie das Berufungsgericht zutreffend annimmt.

3.

Der Senat vermag jedoch der Ansicht des Berufungsgerichts nicht zu folgen, die Organe der Beklagten hätten aufgrund ihrer Erkenntnisse aus dem Unglück von Aitrang, bis überall Indusi-Anlagen installiert worden waren, spätestens mit der Einführung des Sommerfahrplanes 1971 im Mai 1971, die Fahrplangestaltung durch "Entschärfung" der Geschwindigkeiten vor Langsamfahrstellen ändern müssen. Hierin liegt eine Überspannung der Anforderungen an den Umfang der Verkehrssicherungspflicht der Beklagten; erst recht kann deren Organen aus dem Unterlassen solcher Maßnahmen kein Schuldvorwurf gemacht werden.

a)

Das Berufungsgericht führt hierzu aus, dass eine Anordnung im Buchfahrplan, die vor der Rheinweiler-Kurve (etwa bei km 253,8) das Beibehalten der Geschwindigkeit von 100 km/h bis zur Verringerung auf 75 km/h bei Erreichen der Kurve vorgeschrieben, mithin ein zwischenzeitliches Heraufschalten untersagt hätte, das Unglück im konkreten Fall verhindert hätte. Schon das begegnet Bedenken.

Zweifel an der Kausalität könnten deswegen bestehen, weil ungeklärt geblieben ist, weshalb die Geschwindigkeit des Triebwagens vor der Kurve über die zugelassenen 120 km/h hinaus auf 140 km/h angestiegen ist. Das Berufungsgericht selbst hält es für möglich, dass auch im Falle einer sicherlich zulässigen und ungefährlichen, daher vorgeschriebenen Geschwindigkeit von 100 km/h die Gefahr ihrer Erhöhung auf 120 km/h eingetreten wäre, die dann ebenfalls zu einer Entgleisung des Zuges geführt hätte. Es meint indessen, es wäre im Streitfall Sache der Beklagten gewesen, die sich auf die technische Zuverlässigkeit des Triebwagens E 103 berufen habe, den Nachweis zu erbringen, dass im konkreten Fall auch ohne die dann unnötige Höherschaltung der Geschwindigkeit durch die Lokomotivführer sich die Geschwindigkeit um 20 km/h erhöht hätte, weil "jedenfalls nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge die Möglichkeit eines Unfalls durch die andere Gestaltung des Fahrplanes ausgeschlossen gewesen" wäre (so Berufungsurteil S. 30). Offenbar nimmt das Berufungsgericht damit an, unter den gegebenen Umständen spreche der Beweis des ersten Anscheines dafür, dass ohne die von der Beklagten zugelassene Geschwindigkeitserhöhung und eine dadurch veranlasste Bedienungsmaßnahme des Lokomotivführers der Zug vor der Kurve jedenfalls nicht schneller geworden wäre.

Das ist, wie die Revision mit Recht geltend macht, angesichts des ungeklärten Unfallverlaufs nicht unbedenklich. Es würde nämlich voraussetzen, dass nach der Lebenserfahrung eine allmähliche oder plötzlich Bewusstseinstrübung bei M. unabhängig vom Buchfahrplan keinen Bedienungsfehler veranlasst hätte oder dass eine Störung in der Automatik, wie sie der im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren bestellte Sachverständige für möglich gehalten hat, während der Fahrt erfahrungsgemäß gerade durch einen Schaltvorgang des Lokomotivführers ausgelöst sein müsste. Eine nähere Begründung dafür fehlt. Immerhin hat der Sachverständige Dr. M. (aus Z.) in seinem Gutachten beispielhaft mehrere Hypothesen über das Zustandekommen der Geschwindigkeitserhöhung vor der Rheinweiler-Kurve aufgezeigt, die auch einen Geschehensablauf denkbar erscheinen lassen, der durch die vom Berufungsgericht geforderte Änderung des Fahrplanes nicht hätte verhindert werden können. Der Senat braucht diese Frage indessen nicht abschließend zu entscheiden, weil jedenfalls, wie noch aufzuzeigen sein wird, eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch Organe der Beklagten nicht festzustellen ist.

b)

Nicht begründet sind allerdings die Bedenken der Revision, soweit das Berufungsgericht von seinem Standpunkt aus weiter ausführt, das Entgleisen des Zuges sei eine adäquate Folge der unterlassenen Entschärfung des Fahrplanes. Das Berufungsgericht erwägt selbst, dass mehrere, je für sich äußerst seltene Ursachen zusammenwirken mussten, damit es zu dem Unglück kommen konnte:

Indessen handelt es sich beim Zusammentreffen dieser Umstände nicht um einen ganz unwahrscheinlichen, nach menschlichem Ermessen auch von einem Fachmann nicht vorauszusehenden Unfallverlauf, der außerhalb jeder Lebenserfahrung lag (vgl. BGHZ 3, 267). Das Eintreten aller genannten Umstände war nicht von vornherein auszuschließen oder als völlig unwahrscheinlich beiseite zu lassen. Jeder Umstand für sich konnte unter ungünstigen Umständen eintreten. Es war zwar kaum zu erwarten, dass einmal alle Umstände zusammen eintreffen würden; außerhalb des jenseits aller Erfahrung Liegenden war das indessen nicht und war noch als möglich vorauszusehen. Das genügt aber, um die Ursächlichkeit im Rechtssinne zwischen der Unterlassung der Organe der Beklagten und dem Unfall zu bejahen.

c)

Nicht gefolgt werden kann dagegen der Ansicht des Berufungsgerichts, dass den Organen der Beklagten Fahrlässigkeit zur Last fällt, weil sie der voraussehbaren Gefahr eines weiteren Unglücks nach Art desjenigen von Aitrang nicht rechtzeitig durch eine entsprechende Entschärfung des Fahrplanes entgegengetreten sind. Die rechtliche Prüfung des vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalts ergibt sogar, dass die Organe der Beklagten schon objektiv ihrer Verkehrssicherungspflicht genügt haben, so dass bereits deswegen eine Verschuldenshaftung der Beklagten nach § 823 Abs. 1 BGB (und damit deren Verpflichtung zur Zahlung eines Schmerzensgeldes an die Klägerinnen) entfällt.

aa)

Die Beklagte schafft durch ihren Eisenbahnbetrieb naturgemäß ganz erhebliche Gefahren. Daraus erwächst ihre Verpflichtung, diesen Gefahren mit allen technisch möglichen und zumutbaren Mitteln zu begegnen. Wo sie das Risiko der Gefährdung Anderer nicht nach menschlichem Ermessen sicher beherrschen kann, muss sie auf eine Erweiterung und Verbesserung des Betriebes, etwa durch Erzielung höherer Geschwindigkeiten und damit eines Zeitgewinns, verzichten. Zutreffend verweist das Berufungsgericht dabei auf die widerstreitenden Interessen der Beklagten an wirtschaftlicher Gestaltung ihres Betriebes einerseits und andererseits denen der Allgemeinheit und des einzelnen, mit dem Betrieb zwangsläufig in Berührung Kommenden an größtmöglicher Sicherheit.
Wirtschaftliche Überlegungen bestimmen die Beklagte, die Schnelligkeit ihrer Züge bei möglichst niedrigen Kosten zu steigern. Je höher jedoch die Geschwindigkeiten ihrer Züge sind, um so größer werden zwangsläufig auch die Gefahren für Andere durch die Wucht des rollenden Materials. Dabei ist es offensichtlich, dass nicht jedes Risiko ausgeschlossen werden kann. Das ist im Grundsatz nicht anders als bei jeder erlaubten Eröffnung und Anbahnung eines Verkehrs, der Gefährdungen Anderer mit einschließt.

Verkehrssicherheit, die jede Gefahr ausschließt, ist nicht erreichbar. Folglich muss (und kann) nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintrittes Vorsorge getroffen werden. Eine mögliche Gefahr, die sich in einem Schadensereignis verwirklicht hat, wird, wie der Senat wiederholt ausgesprochen hat (vgl. etwa das Senatsurteil vom 15. April 1975 - VI ZR 19/74 = VersR 1975, 812 m.w.N.), erst dann haftungsbegründend, wenn sich vorausschauend für ein sachverständiges Urteil die nicht nur theoretische Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden. Die Organe der Beklagten hatten und haben mithin diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die sie nach dem jeweiligen Stand der Technik als verständige, umsichtige, vorsichtige und gewissenhafte Fachleute für das Eisenbahnwesen für ausreichend halten dürfen, um andere Personen vor Schäden zu bewahren, und die den Umständen nach zumutbar sind (vgl. BGHZ 44, 103 [106]).

Für die Eisenbahn ist das im Grundsatz in § 2 EBO ausdrücklich normiert. Danach müssen Bahnanlagen und Fahrzeuge so beschaffen sein, dass sie den Anforderungen der Sicherheit und Ordnung genügen. Nach § 2 Satz 2 dieser Vorschrift gelten diese Anforderungen als erfüllt, wenn die Bahnanlagen und Fahrzeuge den Vorschriften der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung und, soweit diese keine ausdrückliche Vorschrift enthält, den anerkannten Regeln der Technik entsprechen.

Das Berufungsgericht hat grundsätzlich auch darin recht, dass die Organe der Beklagten einen strengen Maßstab bei der Aufstellung und Einhaltung der Sicherheitsvorschriften anlegen müssen, eben weil der Eisenbahnbetrieb aufgrund seiner technischen Eigenart besonders schwerwiegende Gefährdungen mit sich bringt. Je größer die Gefahren für die Sicherheit sind, um so höher müssen die Anforderungen an die Verkehrssicherheitspflichten sein.

bb)

Die Organe der Beklagten haben aber nach dem damaligen Stand der Technik diesen Anforderungen, wie schon ausgeführt, insoweit genügt, als es die technischen Anlagen betrifft. Das Unglück von Aitrang brachte eine zusätzliche Erkenntnis, indem sich hier die bis dahin zwar denkbare, aber für das sachverständige Urteil als bloß theoretisch anzusehende Möglichkeit eines Entgleisens des Zuges auf offener Strecke infolge Überschreitens der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit in einer Langsamfahrstelle in der Praxis realisiert hatte, und zwar, wie das in einem solchen Fall zu befürchten ist, mit verheerenden Folgen. Das legte für die Fachleute Überlegungen darüber nahe, wie die Sicherheit der Fahrgäste für künftige ähnliche Fälle verbessert werden konnte. Es bot sich die Ausrüstung der gefahrenträchtigen Streckenteile mit der in anderen Fällen bewährten induktiven Zugsicherung (Indusi) an. Dies hat die Beklagte, wie das Berufungsgericht näher feststellt, ohne Verzug in die Wege geleitet.

Die Erfahrungen von Aitrang mussten ihre Organe darüber hinaus zu weiteren Überlegungen veranlassen, ob für die Zeit bis zum Abschluss des Einbaus der Indusi Sofortmaßnahmen möglich und geboten waren. In der Tat bot sich insoweit auch eine veränderte Gestaltung des Fahrplanes an, die durch zweckentsprechende Verringerungen der dem Triebwagenführer gestatteten Geschwindigkeit vor Langsamfahrstellen für die meisten denkbaren Fälle einer plötzlichen Handlungsunfähigkeit des Triebwagenführers eine rechtzeitige Zwangsbremsung des Zuges mittels der Sifa-Anlage gewährleistet hätte.

Diese "Entschärfung" des Fahrplanes als Sofortmaßnahme - wirksam also spätestens vor dem 21. Juli 1971 - hätte indessen, worauf die Revision mit Recht verweist, für die Organe der Beklagten und deren Bedienstete eine schwer zu lösende Aufgabe mit einem beträchtlichen, letztlich angesichts des verbleibenden Unfallrisikos nicht zumutbaren Aufwand bedeutet. Der Senat unterstellt dabei zugunsten der Klägerinnen, dass die eigene Berechnung des Berufungsgerichts für die Strecke Basel - Heidelberg zutrifft, mithin hierfür eine "Entschärfung" der Langsamfahrstellen mit einer Geschwindigkeitsdifferenz von 20 km/h einen Zeitverlust von nur etwa 4 Minuten bedeutet hätte. Die Zeitverluste auf der gesamten Strecke bis Puttgarden wären sicher weit höher anzusetzen gewesen. Entsprechende Fahrplanänderungen wären nicht mehr als geringfügig anzusehen gewesen.

Dem kann die Revisionserwiderung nicht mit Erfolg entgegen halten, es hätten doch nur einige besonders gefährliche Langsamfahrstellen entschärft zu werden brauchen. Eine Entscheidung der Beklagten dahin, nur vor den gefahrenträchtigsten Langsamfahrstellen Geschwindigkeitsbeschränkungen anzuordnen, wäre vom Sicherheitsstandpunkt nicht unbedenklich gewesen; keinesfalls hätte sie, wie das Berufungsgericht anzunehmen scheint, die Sicherheitsspielräume bei den im Buchfahrplan angegebenen Höchstgeschwindigkeiten verringern dürfen, weil sie dadurch nur neue Risikofaktoren geschaffen hätte. Es liegt damit auf der Hand, dass allein auf der Strecke Basel - Puttgarden durch Änderungen des Buchfahrplanes Zeitverluste hätten entstehen müssen, die gewiss ins Gewicht fielen.

Eine Überprüfung und Änderung des Fahrplanes wäre auch, was das Berufungsgericht offenbar nicht genügend beachtet hat, nicht nur auf der von dem D 370 befahrenen Strecke, sondern selbstverständlich auf dem gesamten Streckennetz der Bundesbahn als Vorsorge erforderlich gewesen. Überall hätten weitere, mehr oder weniger erhebliche Anpassungen vorgenommen werden müssen. Vor allem hätte die Beklagte sich auch mit dem Internationalen Eisenbahnverband abstimmen müssen. Fahrpläne für den grenzüberschreitenden Zugverkehr dürfen nach § 8 Abs. 1 der "Bedingungen für die Betriebsführung auf den grenzüberschreitenden Strecken" (UIC-Codex 471E) nur nach vorheriger Vereinbarung geändert werden. Der hier in Rede stehende D 370 setzte gerade in Basel Zugverbindungen aus der Schweiz und Italien fort und hatte in Puttgarden Anschluss an die Fähre nach Skandinavien. Andere internationale Zugverbindungen wären natürlich ebenso betroffen gewesen.

Ob unter solchen Umständen die Organe der Beklagten überhaupt organisatorisch in der Lage gewesen wären, ihre Fahrpläne den veränderten Zuggeschwindigkeiten zum Fahrplanwechsel Sommer 1971 anzupassen, muss bezweifelt werden, ohne dass es hierzu noch ins Einzelne gehender Darlegungen der Beklagten bedurft hätte, wie sie das Berufungsgericht angesichts der seiner Ansicht nach "im ganzen doch verhältnismäßig geringfügigen Anpassung des Fahrplans" vermisst.

Eine derart grundlegende, dazu noch nur bis zum jeweiligen Einbau der Indusi vorübergehende Änderung des Fahrplanes hätte übrigens zusätzliche Risiken mit sich gebracht. Die Gefahr, dass den Bediensteten der Beklagten in der ersten Zeit nach der Umstellung wegen der neuen Verhältnisse zusätzliche Fehler unterlaufen konnten, ist nicht von der Hand zu weisen.

Trotz allem hätte die Beklagte die vom Berufungsgericht für richtig erachteten Maßnahmen ergreifen müssen, wenn insoweit bei der gebotenen strengen Prüfung ein unabweisbares Sicherheitsbedürfnis bestanden hätte. Das indessen ist aus Sicht der Organe der Beklagten auch nach dem Unglück von Aitrang und vor dem von Rheinweiler nicht der Fall gewesen. Das bis dahin allgemein für ausreichend erachtete Maß an Sicherheit hatte sich nicht verringert, das für erlaubt gehaltene Risiko des Eisenbahnbetriebes nicht vergrößert.

Nach wie vor musste es für äußerst unwahrscheinlich erscheinen, dass ein Zug auf offener Strecke wegen verbotswidrig überhöhter Geschwindigkeit in einer ohne weiteres erkennbaren Langsamfahrstelle entgleisen konnte. Für von handlungsfähigen Triebfahrzeugführern bediente Fahrzeuge reichten die bestehenden Sicherheitsvorkehrungen nach wie vor aus; gegen Fehlhandlungen aus einem plötzlichen Verwirrungszustand heraus konnten auch Geschwindigkeitsvorschriften im Buchfahrplan nicht helfen. Der Fall, dass ein Triebwagenführer infolge Trübung oder Verlust seines Bewusstseins während der Fahrt handlungsunfähig werden konnte, dazu noch so plötzlich, dass er nicht mehr zur Abwehr der dadurch entstehenden Gefahr reagieren konnte, konnte ohnehin erfahrungsgemäß nur äußerst selten eintreten. Um dann für die Insassen des Zuges wirklich gefährlich zu werden, mussten aber weitere, ebenfalls seltene Umstände eintreten: Der Triebwagenführer musste gerade kurz vor Erreichen der Langsamfahrstelle mit ihrer erheblichen Geschwindigkeitsdifferenz handlungsunfähig werden, er musste ferner aus irgend einem Grunde die Sifa-Taste heruntergedrückt lassen, die er gerade eben bedient hatte, oder aber er musste unbewusst diese Taste erneut betätigen.

Die Beklagte hatte die Erfahrung gemacht, dass mit ihren vorhandenen Sicherheitseinrichtungen Langsamfahrstellen nach Art der Rheinweiler-Kurve über Jahrzehnte hinweg unzählige Male - wahrscheinlich fast eine Million mal - gefahrlos durchfahren worden waren. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich nach dem Unglück von Aitrang bis zur Ausstattung des Gefahrenpunkt mit Indusi ein ähnliches Unglück wiederholen würde, war somit äußerst gering; dass es dennoch dazu gekommen ist, ist ein unglücklicher Zufall. Dessen Eintritt mag z. B. schon durch die Gefahr von Fehlen im Betrieb, die durch eine radikale und überstürzte Fahrplanänderung begünstigt werden konnte, aufgewogen gewesen sein.

In Anbetracht all dieser Umstände konnte von den Organen der Beklagten nicht gefordert werden, die vom Berufungsgericht erwogene "Entschärfung" des Fahrplanes mit all seinen Konsequenzen als Sofortmaßnahme anzuordnen. Sie hielt sich vielmehr im Rahmen des "erlaubten Risikos", wenn sie alsbald wirksame Maßnahmen zu einer weiteren Verbesserung einleitete, im Übrigen aber darauf vertraute, dass der bisherige Sicherheitsstandard keine wirkliche, sich nicht im Rahmen des letztlich Unvermeidlichen haltende Gefährdung für das Publikum bedeutete.

4.

Auf die Frage, ob den Organen der Beklagten Fahrlässigkeit zur Last fällt, kommt es danach nicht mehr an. Die auf Zahlung eines Schmerzensgeldes gerichtete Klage muss vielmehr unter Wiederherstellung der landgerichtlichen Urteile abgewiesen werden, weil der Beklagten keine unerlaubte Handlung gemäß §§ 823, 831 BGB vorgeworfen werden kann.

5.

[Formelmäßige Kostenentscheidung nicht aufgenommen]

Gez. Unterschriften

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  Letzte Änderung am 6. April 2004 von Matthias Dörfler